Die Automatisierungspyramide, oder: Keine Angst vor Industrie 4.0, liebes SAP!

Die Automatisierungspyramide, oder: Keine Angst vor Industrie 4.0, liebes SAP!

Bisher ließ sich die Struktur von industriellen Automatisierungssystemen sehr gut mithilfe einer Pyramide veranschaulichen. Innovative Prozesstechniken sind dabei dieses Modell signifikant zu verändern.


4. April 2022


Pyramiden haben etwas Magisches. Sie stehen für Stabilität, Vollkommenheit und Vertrauen, etwas, das standhält, das die Zeiten überdauern wird. Ein Stück Perfektion! Dass sich das mit der Zeit ändern kann, wissen wir nicht nur aus der Archäologie. Wer baut denn heute noch Pyramiden? Oder denken wir an die Alterspyramide. Da ist gar nichts mehr perfekt.

Ein weiteres Beispiel, bei dem die Veränderung im Gange ist, ist die Automatisierungspyramide. Dieser Begriff wurde vor etwa drei Jahrzehnten geprägt. In Form von mehreren übereinanderliegenden Ebenen beschreibt er die Struktur in einer automatisierten Produktion. Wie viele Ebenen das sind und wie diese genau benannt werden, ist allerdings nicht eindeutig definiert.

Sicher ist: Oben an der Spitze befindet sich die Steuerungsebene der gesamten Produktion. Hier werden strategische Entscheidungen getroffen und zur Umsetzung nach unten delegiert. Beispielsweise verarbeiten hier IT-Systeme die Daten eingehender Kundenaufträge und senden dem Produktionssystem detaillierte Anweisungen, damit dieses am Ende genau die bestellten Produkte termingerecht auswirft.
»Ein Kundenauftrag könnte ein Auto mit einem bestimmten Motor sein, mit konkreten Vorgaben für eine Ausstattungslinie und zusätzlichen Sonderausstattungen. Oder ein bestimmtes Medikament in einer bestimmten länderspezifischen Ausführung samt Dosierung und der Menge je Verpackungseinheit«, nennt MGA-Chef Lorenz Arnold zwei gängige Beispiele.

Während oben Unternehmensverwaltungssysteme wie ERP – zum Beispiel bei SAP – angesiedelt sind, wird auch in den Ebenen darunter gesteuert. Hier lässt sich jedes Modul auch anhand der Hardware einer Ebene zuordnen. Von der Produktionsleitebene (Beispiel: MES) bis zur Steuerungsebene (SPS) werden die Funktionen spezifischer. Schließlich landen wir auf der Feldebene, dem untersten Level der Automatisierungspyramide, als Fundament oder auch Basis bezeichnet. Hier ist die Maschinen- und Anlagentechnik verortet.

Der Arbeitsbereich der MGA-Spezialisten umfasst die untersten zwei, gelegentlich drei Ebenen, also die Feld- und die Steuerungs- sowie teilweise die Leit- oder Prozessleitebene. Der vorrangige Arbeitsplatz ist aber der Maschinenraum und die Arbeit anhand der Pyramide fundamental wichtig. »Unten ist hier nicht schlecht, ganz im Gegenteil: Hier spielt die Musik, hier wird der Vortrieb erzeugt«, freut sich Lorenz Arnold.

Wer erfolgreich sein will, benötigt ein Netzwerk. Was für Menschen eine Erkenntnis ist, gilt in jedem Fall für die industrielle Produktion. Wesentlich für die Funktionalität automatisierter Abläufe ist die Verknüpfung der Module und damit der Ebenen. Ob durch Verdrahtung, per Funk, über optische oder akustische Signale – ohne Kommunikation funktioniert nichts. In der Automatisierungspyramide lässt sich dies vereinfacht so darstellen: Von oben nach unten werden Anweisungen gegeben, von unten nach oben Meldungen und Signale.

Nachfolgend beschreibt Lorenz Arnold einen Vorgang, der die Kommunikation in der Materialflusstechnik aufzeigt: »Im Warenausgang des Distributionszentrums eines großen Versandhändlers steht ein für mich bestimmter Karton zum Versand an: Dieser gelangt also auf der Fördertechnik in den Versand. Dort wird das Etikett des Kartons von einem Barcodescanner (Ebene 1 der Automatisierungspyramide) gelesen. Der Barcodescanner ist an der SPS (Ebene 2) angehängt, gibt das Leseergebnis an diese weiter. Die SPS weiß nun: Aha, hier ist der Karton mit der Nummer 12345. Mehr weiß die SPS nicht. Sie schickt nun ein sogenanntes Telegramm über das Netzwerk an den Materialflussrechner (MFR, Ebene 3) und fragt: Was soll ich mit dem Paket 12345 machen? Der MFR verfügt über die nötige Info und gibt zurück: Zielstelle 678 der Förderstrecken. Die SPS weiß nun, dass sie das Paket bis zur Ausschleusung der Zielstelle 678 transportieren und dort ausschleusen soll. An dieser Zielstelle wartet dann bereits der LKW, der alle Pakete für meine Heimatregion an Bord nimmt und dorthin bringt.«

So weit, so »oldschool«! Mittlerweile gelten Systeme, die die Automatisierungspyramide abbilden, als relativ träge. Je mehr Informationen sich Richtung Spitze bewegen, desto dichter wird der Verkehr und entsprechend verlangsamen sich die Entscheidungsprozesse. In einer Hochgeschwindigkeitsproduktion ist jedoch keine Zeit für Warteschlangen! Zudem ist die Gefahr groß, dass selbst bei kleinen Störungen das komplette System ausfällt – wie bei einem Kreislaufkollaps, wenn irgendwo im menschlichen Körper eine Blutbahn verstopft.

Für dieses Handicap der klassischen Pyramidenarchitektur bietet die Industrie 4.0 Lösungen. Wie sehen diese aus? »Die Automatisierungspyramide wird auf den Kopf gestellt«, sagt Lorenz Arnold und meint damit, dass »nicht mehr ein zentrales ›Gehirn‹ (ERP) die Produktion steuert, sondern jedes Werkstück seinen Herstellungsprozess selbst.«

Beispielsweise wird einem Werkstück per RFID ein Datensatz mitgegeben, in dem alle Fertigungsschritte codiert und damit genau festgelegt sind. Durch das Vorhandensein dieses Datensatzes entfällt die Abfrage der Steuerungsebene nach oben an die Leitebene, wie mit dem Werkstück zu verfahren ist. Die Anweisungen liegen ja bereits bei, das heißt, das Produkt steuert seine Produktion selbst. Mit dieser eigentlich simplen Idee wächst die Resilienz der Anlage gegen Störungen. Dies war übrigens eine der Kernideen für Industrie 4.0, bemerkt Lorenz Arnold.
Der MGA-Chef betont allerdings auch, dass es ganz ohne ERP auch zukünftig nicht funktioniert: »Zu Beginn des Produktionsprozesses muss ja der Datensatz mit den Ausprägungen von irgendwo her aufs Werkstück kommen – und er kommt natürlich vom ERP-System. Also keine Angst, SAP & Co. Ihr werdet nicht überflüssig ;-)«

Es könnte allerdings sein, dass man sich bei der Darstellung von Automatisierungsstrukturen zukünftig eine andere Form aussucht. Die Pyramide bröckelt …


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